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Denktypen aus neurobiologischer Perspektive

Über autistisches Denken und Wahrnehmen weiß man fast nichts. Die Erforschung der vielfältigen Facetten, in denen dieses Denken offensichtlich in Erscheinung tritt, hat gerade erst begonnen.

Nach Hans Asperger (Autistische Psychopathen, 1944) und Leo Kanner (Autistic Disturbances of Affective Contact, 1943) kann von Autismus in ihrem Sinne gesprochen werden, wenn zwei Aspekte beobachtet werden können: spezifische Auffälligkeiten im sozialen Verhalten (die ein Fehlen ansonsten intuitiv vorhandenes Wissen um soziale Regeln nahe legen) und ungewöhnliche Interessen und Fähigkeiten. Dabei hat bereits Hans Asperger festgestellt, dass die Fähigkeiten und Interessen autistischer Menschen sehr unterschiedlich sein können. In den Diagnosekriterien nach ICD und DSM verschwimmt dieser an sich recht klare Autismusbegriff, weil sie den Fokus auf das soziale Verhalten legen.

Neurobiologische Befunde

Autistisches Denken und Wahrnehmen wird seit den 1980er Jahren nach Uta Frith durch eine fehlende intuitive Theory of Mind und eine schwache zentrale Kohärenz erklärt. Aber erst seit einigen Jahren gibt es ein tieferes neurobiologisches Verständnis von autistischem Denken und Wahrnehmen. Laurent Mottron arbeitet zusammen mit autistischen Menschen als "Experten in eigener Sache" in einer Forschungsgruppe in Montreal. Diese Forschungsgruppe hat das Thema erweiterte Wahrnehmungsverarbeitung bei autistischen Menschen in den neurobiologischen Diskurs gebracht. Sie und zahlreiche andere neurobiologische Autismusforscher dringen immer tiefer in dieses Feld ein und fördern bis heute immer weitere Befunde ans Licht. Das Bild, das sich bis dato ergibt, zeigt bei autistischen Menschen eine erweiterte Wahrnehmungsverarbeitung im Visuellen und Auditiven. Insgesamt scheinen die Wahrnehmungsareale bei autistischen Menschen dichter vernetzt zu sein. Die Forschungsgruppe um Laurent Mottron weist auch darauf hin, dass insbesondere die Unterschiede in Lern-, Wahrnehmungs- und Denkstil autistischer Menschen erforscht und berücksichtigt werden müssen. Während diese Forschungen zeigen, dass bei autistischen Menschen insbesondere die Bereiche der Wahrnehmungsverarbeitung dichtere Netzwerke bilden, zeigen neurobiologische Forschungenauch, dass bei ihnen zugleich weiter entfernte Bereiche weniger stark vernetzt sind als üblich. Es sind vor allem die Bereiche der (visuellen) Wahrnehmungsverarbeitung und der Sprachverarbeitung, die zumindest teilweise unabhängiger voneinander agieren.

Sprachliches Denken ist durch den Drang geprägt, den Wahrnehmungen Sinn zuzuschreiben, damit sie als etwas Ganzes zu erscheinen und in vorhandene Konzepte zu passen. Ohne diesem Drang bleiben die Wahrnehmungsinhalte Details, die nur lose miteinander verknüpft sind. Daher ist der Unterschied zwischen einem Denken, das eher auf der sprachlichen Seite operiert zu einem auf der der Wahrnehmungsverarbeitung, immens, selbst bei quantitativ nur kleinen Unterschieden. Autistisches Denken scheint den Drang zum Ganzen eher weniger, manchmal vielleicht gar nicht, zu haben. Dazu passt gut der Forschungsbefund, dass Autisten ihre Wahrnehmungen mit deutlich weniger Vorannahmen verarbeiten. Sie nehmen ihre Umwelt in gewisser Weise akkurater wahr und erschließen sie sich weniger über Konzepte. Autistischen Menschen erscheint ihre Umwelt daher oft als "magisch", weil sie weitgehend unvorhersehbar ist. Die Erkenntnis, dass sie sich ihre Wirklichkeit eher "bottom-up" erschließen, von den vorsprachlichen Wahrnehmungseindrücken zu (sprachlichen) Konzepten, hat ein immenses Erklärungspotenzial; vor allen Dingen, weil noch neurobiologisch untermauert werden kann.

Ludger Tebartz van Elst sieht daher ein Spektrum von einem autistischen bis zu einem holistischen Denken. Dabei funktioniert das holistische Denken als Einheit, während das autistische zwei oder mehrere mehr oder weniger stark miteinander verbundene Zentren hat. Es ist in diesem Modell naheliegend, dass das Spektrum nicht nur eine sondern viele Dimensionen haben wird, je nachdem wie die unterschiedlichen Bereiche des Gehirns in- und miteinander vernetzt sind. Da die Mehrheit der Menschen in einer Weise vernetzt denken, dass sie ihr Denken als eines, etwas Ganzes, wahrnehmen, ist so ein Denken gut erforscht und viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens für solche Denker eingerichtet. Über multizentrales Denken weiß man fast nichts. Dass es so etwas überhaupt gibt und dass es eng mit Autismus verbunden ist, ist eine Erkenntnis des einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Autistische Persönlichkeiten

Temple Grandin ist wohl die erste Autistin, die sich zum Thema Autismus geäußert hat; sie legt ihren Fokus auf autistisches Denken und Wahrnehmen. Von ihr stammt die These, alle Autisten seien Bilderdenker, die sie später erweitert hat. Auf jeden Fall sieht sie einen grundlegenden Unterschied zwischen autistischem und nicht-autistischem Denken. Autistische Menschen nehmen ihr sprachlich basiertes und ihr wahrnehmungsbasiertes Denken als getrennt wahr, während nichtautistische Menschen beide Aspekte als derartig ineinander verschränkt wahrnehmen, dass sie nicht unterschieden werden können. Nach Temple Grandin korreliert die Fähigkeit eines autistischen Menschen, sich in eine nichtautistische Umgebung einzugliedern, direkt mit dem Grad, in dem er beide Aspekte seines Denkens aufeinander beziehen kann.

Die Trennung von sprachlichem und wahrnehmungsbasiertem Denken hat auch für die autistischen Persönlichkeiten weitreichende Folgen. Die strukturale Psychologie (vor allem nach Jacques Lacan) zeigt, dass die Verschränkung von beiden Aspekten des Denkens die Voraussetzung für die Herausbildung eines bestimmten Persönlichkeitstyps ist. Dieser ist geprägt von einer Selbstwahrnehmung als Individuum, das von einer Objektwelt getrennt ist. Dieses Individuum, das "Ich", ist mit seiner sozialen Umgebung verschränkt und lebt in einer sprachlichen Wirklichkeit, es "wohnt in der Sprache". Dies ist nur möglich, weil sprachliche und wahrnehmungsbasierte Wirklichkeit als Eines wahrgenommen wird - als Einheit der Erfahrung und des Bewusstseins. Die Wahrnehmungsverarbeitung tritt dabei als das Unbewusste in Erscheinung.

Autistische Menschen erleben ihr Denken dagegen als getrennt, in Teile, die sie mehr oder weniger gut aufeinander beziehen können. Das "Ich" erscheint ihnen als logischer Trick (als ein Effekt einer sozialen, dynamischen Logik), als etwas unwirkliches und fremdes. Nicht weniger fremd und unwirklich erscheinen ihnen soziale Beziehungen. Sie leben nicht in einer Welt, die sie mit allen anderen Menschen teilen, sie leben in ihrer eigenen Welt, die ihre Grundlage in ihrer eigenen Wahrnehmung (und Wahrnehmungsverarbeitung) hat, nicht in der Sprache. Die Wirklichkeit autistischer Menschen ist inkohärent, die sie eher als Collage denn als Gesamtbild erleben. Neben der verschränkten Welt, der sie sich durch Lernen und Beobachten sukzessive annähern können, leben sie in einer getrennten Welt, die ihre eigentliche Welt ist, die wirkliche Wirklichkeit.